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Titel
Instrument des Vertrauens in einer unvollkommenen Gesellschaft. Der Eid im politischen Handeln, religiösen Denken und geschichtlichen Selbstverständnis der späten Karolingerzeit


Autor(en)
Behrmann, Heiko
Reihe
Relectio. Karolingische Perspektiven (4)
Erschienen
Ostfildern 2022: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
477 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sören Kaschke, Historisches Institut, Universität zu Köln

Einem geläufigen Narrativ der älteren Forschung zufolge begann der Niedergang der karolingischen Dynastie bereits um 830, als mit der ersten Entmachtung Kaiser Ludwigs des Frommen durch seine Söhne eine nahezu ununterbrochene Abfolge von Krisen in Gang gesetzt wurde. In diesen Krisen, nicht zuletzt im Bruderkrieg von 840–843 nach Ludwigs Tod, sei sowohl das Vertrauensverhältnis zwischen den Mitgliedern der karolingischen Familie wie jenes zwischen diesen und ihren Anhängern schwer erschüttert worden und infolgedessen letztlich auch das fränkische Großreich zerfallen.

Viele Elemente dieses Narrativs wurden inzwischen einer gründlichen Revision unterzogen. Der allseitige Vertrauensverlust ist allerdings nicht von der Hand zu weisen und bildet den Ausgangspunkt für Heiko Behrmann, nach der Rolle des Eides in dieser Entwicklung zu fragen. Dabei geht es ihm weniger um den praktischen Einsatz von Eiden, sondern vor allem um die sich nicht zuletzt in Reaktion auf die politischen Verwerfungen der Zeit wandelnde „zeitgenössische Wahrnehmung“ (S. 15). Der Eid als „vertrauensstiftendes Instrument“ (S. 24) könne als „Leitfossil“ (S. 22) für den Umgang der karolingischen Gesellschaft mit Vertrauenskrisen dienen. Insgesamt soll dabei auf die „religiösen Implikationen“ des sich in Wechselwirkung zwischen „politischem Gebrauch“ und „theologischer Bewertung“ (S. 14) entwickelnden Eiddiskurses fokussiert werden.

Zu diesem Zweck analysiert Behrmann in dem vorliegenden Band, der auf seiner 2019 an der Freien Universität Berlin abgeschlossenen Dissertation beruht, nach einer knappen Einleitung und einigen „Vorbemerkungen“ (S. 21–27) ein beeindruckend weitgespanntes Quellenkorpus. Dieses teilt er in drei Abschnitte auf, die sich der Rolle von Eiden in erzählenden Quellen (S. 29–163), exegetischen Texten und „Traktaten“ (S. 164–262) sowie Rechtsquellen (S. 262–354) widmen. Vielleicht unvermeidlich fluktuiert die Intensität der Auseinandersetzung mit den einzelnen Quellengruppen dabei merklich. Der Untersuchungszeitraum ist nominell auf die Jahre 833–916 eingegrenzt (S. 15). Mit guten Gründen spart Behrmann Italien mit seinen ganz eigenen Traditionen von der Untersuchung aus (S. 17) und konzentriert sich auf die nordalpinen Teile des Frankenreichs.

Der erste Abschnitt, im Wesentlichen mit historiographischen Quellen befasst, wirkt teilweise etwas flüchtig ausgearbeitet. Zentrale Geschichtswerke der karolingischen Epoche (Thegan, der Astronomus, Nithard, das Epitaphium Arsenii, die Annales Bertiniani und Fuldenses, die Chronik Reginos von Prüm) werden jeweils auf Schilderungen konkreter Eide oder auch Meineide bzw. Treubrüche hin gesichtet und interpretiert. Zu Beginn findet sich noch eine etwas halbherzige statistische Auswertung der verwendeten Terminologie (vor allem iuramentum und sacramentum). Diese versandet aber bald, mit leichten Widersprüchlichkeiten: Bei der Untersuchung des Astronomus wird zunächst, offenbar im Anschluss an den letzten Herausgeber der Quelle, aus einem Überwiegen von sacramentum gefolgert, damit sei der „sakrale Charakter des Eides“ betont worden (S. 47). Bei der anschließenden Diskussion der Nutzung von iuramentum dagegen wird konzediert, dass ein Grund für diesen „terminologischen Wechsel“ nicht zu ergründen sei und die beiden Begriffe „prinzipiell synonym“ verwendet werden konnten (S. 50; ähnlich das Resümee bei den Annales Fuldenses S. 110). Ohne zunächst eine eigene These zur Erklärung der jeweiligen Verwendung anbieten zu können (eine solche folgt erst S. 159, ausdrücklich als nicht „zufriedenstellend“ charakterisiert), folgert Behrmann dann im Fazit zum Astronomus dennoch, die bloße Verwendung von zwei Begriffen beweise „eine besondere Sensibilität für diese Thematik“ (S. 53; erneut S. 121 hinsichtlich der Annales Fuldenses).

Insgesamt werden bei der Analyse der historiographischen Texte die einzelnen Eidfälle vornehmlich separat in chronologischer Folge besprochen, anstatt sie systematisierend zusammenzufassen. Methodisch ist vor allem bei Reginos Chronik zu bemängeln, dass sich die Analyse ganz auf Eide beschränkt, die innerhalb des Untersuchungszeitraums geleistet wurden. Doch für die Haltung der Quellenverfasser zum Eid sind auch Schilderungen vorkarolingischer Eide relevant. Bei den Annales Bertiniani schließlich werden, wie auch bei den Annales Fuldenses, ohne nähere Begründung einzelne Teile nur kursorisch ausgewertet, so bei den Fuldenses der erste, teilweise kompilierte Abschnitt bis 838 und bei den Bertiniani die beiden früheren, wohl von Fulko bzw. Prudentius zu verantwortenden Abschnitte bis 861.

Im Ergebnis kann Behrmann dennoch hier wie in der anschließenden kurzen Sektion zu einigen hagiographischen Texten (die nur selten Eide thematisieren) bereits einige Muster aufzeigen, die auch bei noch folgenden Quellenanalysen festzustellen sind. Hierzu zählen ein wachsendes Unbehagen daran, Bischöfe zum Schwören eines Eides zu verpflichten, eine Aufwertung des Eides als gleichwertig mit Sakramenten (woraus eine Legitimation für Bischöfe abgeleitet werden konnte, bei Gefahr von Meineiden politisch zu intervenieren) sowie eine Neigung, Könige in Bezug auf Eidleistungen Bischöfen anzugleichen, indem beide vorzugsweise lediglich promissiones anstelle von förmlichen Eiden abgeben sollten.

Der folgende Abschnitt untersucht zunächst exegetische Texte, vor allem zum Matthäus-Evangelium mit seinem Schwurverbot in Mt 5, 33–37. Hier ist Behrmann ersichtlich in seinem Element und bietet prägnante Analysen der relevanten Passagen, beginnend mit dem Matthäus-Kommentar des Hrabanus Maurus. Überzeugend arbeitet er in dichter Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung eine starke Tendenz zu einer (schon bei Augustinus zu findenden) Relativierung des Schwurverbots heraus. Die Exegeten argumentierten dabei meist, dass Eide angesichts der Schwachheit vieler Menschen weiterhin nötig seien, um gegenseitiges Vertrauen zu befestigen. Lediglich bereits weiter auf dem Weg zur christlichen Perfektion vorangeschrittene Personen, insbesondere Mönche und Bischöfe, sollten auf Eide möglichst verzichten, da ihrem Wort auch ohne Eid hinreichendes Gewicht zukomme. Biblisch motivierte Argumentationen im Spektrum von Eid und Treue werden anschließend zudem anhand verschiedener Texte aus der Feder Agobards von Lyon und Hinkmars von Reims sowie dem Handbuch der Dhuoda studiert. Die erneut umsichtige Quelleninterpretation zeigt ein wachsendes Bewusstsein für Loyalitätskonflikte bei einander widersprechenden Eiden sowie Ansätze zu einem Konzept der „legitimen Untreue“ (S. 238).

Im letzten Abschnitt wendet sich Behrmann ausgewählten Rechtsquellen zu, wobei seine berechtigte Skepsis gegenüber einer zu strikten, modern gedachten Trennung von Kirchenrecht und weltlichem Recht etwas zu stark ins andere Extrem umschlägt. Jedoch demonstriert er eindrücklich, dass die Konzilsakten des 9. Jahrhunderts einen klaren Trend (in West wie Ost) zur wachsenden Ablehnung bischöflicher Treueide gegenüber dem Herrscher zeigen, kulminierend in erstmals 872 nachzuweisenden parallelen Eidformeln für ein sacramentum der Laien gegenüber einer promissio der Bischöfe (S. 281). Kirchenrechtssammlungen, Bußbücher und Bischofskapitularien ergänzen und unterstützen dieses Bild, ohne wesentlich neue Aspekte zu bieten.

Im Bereich des weltlichen Rechts tragen die Kapitularien vornehmlich indirekt zur Eidthematik bei. Wie Behrmann zu Recht argumentiert unterstützen sie durch ihre Betonung von pax et concordia den generellen Trend des 9. Jahrhunderts, die Verpflichtung zu einem moralischen Lebenswandel als impliziten Bestandteil des Treueides gegenüber dem Herrscher zu deuten. Allerdings führt seine Unterschätzung der Differenz zwischen kirchlichem und weltlichem Recht hier auch zu Fehlgriffen, wenn er die seltene Thematisierung von Meineiden in Kapitularien damit zu erklären versucht, dies hätte bereits die kirchliche Gesetzgebung, besonders in den Bischofskapitularien, intensiv getan, weshalb es im weltlichen Recht nicht wiederholt worden sei (S. 316f.). Deutlich überzeugender wird anschließend die Entwicklung der Eidformulare in die besonders im Westfrankenreich wachsende Sakralisierung des Königtums eingeordnet.

Ungewöhnlich, aber durchaus reizvoll ist der Abschluss der Untersuchung. Anstelle einer konventionellen Zusammenfassung bietet Behrmann eine „Geschichte des Eides“ im Untersuchungszeitraum (S. 355–425), bei der die Ergebnisse der Quellenarbeit immer wieder an passender Stelle eingeflochten werden. So ergibt sich eine gut lesbare, stringente Argumentation, die eine unverbundene Reihung der Ergebnisse entlang dem Korsett des Inhaltsverzeichnisses vermeidet. Eine umfangreiche Bibliographie sowie Namen- und Sachregister runden den Band ab. Trotz der generell soliden Quellenkritik sind in der Bibliographie allerdings mehrfach längst überholte MGH-Editionen angeführt. Es fehlen etwa die Neueditionen der Krönungsordines von 19951, der Annales Bertiniani von 19642 sowie der Annales Alamannici (2019)3, ferner die 2012 überarbeitete Nithard-Edition.4

Das letzte Wort zur Rolle des Eides im 9. Jahrhundert ist sicherlich noch nicht gesprochen (was hier auch gar nicht das Ziel war). Doch Behrmanns Arbeit ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg, insbesondere Dank seiner souveränen Auswertung exegetischer Quellen, die in der Forschung bislang oft zugunsten weltlich-politischer Quellen vernachlässigt wurden. Dass Behrmann bei der Neugewichtung nun gelegentlich in die andere Richtung überkompensiert, ändert nichts am großen Wert seiner Untersuchung für künftige Forschungen.

Anmerkungen:
1 Richard A. Jackson (Hrsg.), Ordines Coronationis Franciae. Texts and Ordines for the Coronation of Frankish and French Kings and Queens in the Middle Ages, 2 Bände., Philadelphia 1995.
2 Félix Grat / Jeanne Vielliard / Suzanne Clémencet (Hrsg.) / Léon Levillain (Bearb.), Annales de Saint-Bertin, Paris 1964.
3 Roland Zingg (Hrsg.), Die St. Galler Annalistik, Ostfildern 2019, S. 42–105.
4 Philippe Lauer (Hrsg.) / Sophie Glansdorff (Bearb.), Nithard. Histoire des fils de Louis le Pieux, Paris 2012.

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